Inselreihe
Was geschieht, wenn sich vier Autorinnen treffen, die die Leidenschaft fürs Schreiben und Reisen miteinander teilen? Sie planen eine gemeinsame Buchserie!
Über die Charaktere waren wir uns schnell einig, die Ideen für spannende Geschichten wurden geboren. Es fehlte nur noch der Schauplatz: Eine Nordseeinsel sollte es sein.
Schnell war uns klar, dass eine gemeinsame Reihe besondere örtliche Gegebenheiten braucht – und so erschufen wir „Nortrum“, eine Insel, auf der wir alles fanden, was wir für unsere jeweiligen Geschichten brauchten: Reetgedeckte Häuser, einen Hafen, ein Dorf, einen Surfstrand, Dünen, einen Leuchtturm und jede Menge skurrile Charaktere.
Wir hoffen, dass dir unsere Serie gefällt. Dass du lachen musst und berührt sein wirst, dass du mitfieberst und miträtselst, wohin das alles führen wird.
Jede Geschichte ist ein in sich abgeschlossener Roman, aber es erhöht das Lesevergnügen, wenn du mit dem ersten Teil beginnst.
Nimm also Platz, schnall dich an und lassen dich von unseren Geschichten nach Nortrum entführen, eine Insel, wie wir sie uns erträumt haben.
Deine
Karin Lindberg, Stina Jensen, Karin Koenicke und Anne Stevens
Himmelhoch verliebt

Himmelhoch verliebt

Traum geplatzt! Emmas kleiner Laden „Schickes für Vierbeiner“ steht vor dem Aus. Dabei würde sie mit ihrem Selbstgenähten so gern für sich und ihren neunjährigen Sohn Benni sorgen. Kurz entschlossen bricht sie im teuren München alle Zelte ab und zieht zu ihrer Tante nach Nortrum, um dort mit ihren kreativen Näharbeiten einen Neuanfang zu starten. Doch der brummige Jarick, der das Reetdach nebenan repariert und jeden Inselvogel beim Vornamen kennt, macht ihr das Leben schwer. Nur widerwillig übernimmt er den Ladenumbau und betont ständig, dass ihr Geschäft keine Zukunft hat. Der Kerl raubt ihr den letzten Nerv!
Dummerweise hat Benni Riesenspaß daran, mit Jarick Wattvögel zu beobachten. Auch Emmas Herz klopft verdächtig schnell, wann immer sie Jarick begegnet. Der Naturbursche fasziniert sie, doch sie fürchtet, dass ihr Herz erneut gebrochen wird.
Ein romantischer Dünenspaziergang stellt Emma vor eine Entscheidung. Soll sie ihre Bedenken über Bord werfen und für eine neue Liebe alles riskieren?

Ab Juli 2023 in allen Shops erhältlich als eBook, Taschenbuch und Hörbuch!

 

Leseprobe:

 

1. Mops-Mode

„Dieses Streifenmuster macht schlank, nicht wahr, Emma?“ Frau Schneethaler sah mich fragend an.
Sie hatte ihre üppige Oberweite heute in ein graues Trachtenkleid gepresst, trug Silberohrringe im Edelweiß-Design und eine passende Spange in der grauen Dauerwelle. Unschlüssig blätterte sie in meinem Stoffmusterbuch herum, das vor ihr auf dem Verkaufstresen lag. Direkt neben dem Buch thronte Zeus, ihr molliger Mops, und sah reichlich desinteressiert drein. Dabei ging es bei der Auswahl des feinen Zwirns nicht um sein Frauchen, sondern um ihn.
„Zu seinem weißen Fell würden die dunkelblauen Streifen sicher toll aussehen“, erwiderte ich und deutete auf ein Stoffmuster. „Und wenn Sie wollen, sticke ich neben seinem Namen wieder einen kleinen goldenen Donnerkeil. So wie bei seinem Hundekissen.“
Die Kundin nickte begeistert. „Unbedingt! Es darf ruhig jeder wissen, dass Zeus‘ Mäntelchen ein Unikat ist.“
Ich nickte und verkniff mir die Frage, ob ich den Preis gleich noch dazusticken sollte. Frau Schneethaler war eine meiner besten Kundinnen, mit ihr wollte ich es mir auf keinen Fall verderben. Zumal sie meinen Laden „Schickes für Vierbeiner“ schon einigen Freundinnen weiterempfohlen hatte, die auf der Suche nach ausgefallenen Geschenken gewesen waren.
Zeus linste inzwischen sehnsüchtig auf das bauchige Glas, in dem ich die Leckerlis aufbewahrte. Ich streichelte seinen Kopf, während ich einen kleinen Hundekeks herausangelte und ihm gab. Ein Happs – dann war das Leckerli verschwunden und Zeus bedachte mich mit seinem flehendsten Hundeblick. Ich musste lachen. „Erst nehmen wir deine Maße, dann kriegst du noch eins.“ Er seufzte und drehte den Kopf in Richtung des Standventilators, um sich kühlere Luft um die Mopsohren wehen zu lassen.
Ich wandte mich Frau Schneethaler zu. „Für Sie einen Espresso?“
„Gern.“ Sie nahm im altmodischen Ohrensessel Platz, den ich für meine zweibeinigen Kunden bereitstehen hatte. Er war ein Erbstück meiner Oma und der absolute Lieblingsplatz meines Sohnes Benni, wenn er mir nach der Schule im Laden Gesellschaft leistete.
Der Kaffeevollautomat im hinteren Teil des Ladens war eigentlich viel zu teuer gewesen für meinen mageren Kontostand, aber die Münchner Kundinnen waren so etwas gewöhnt. Schließlich befand sich mein Geschäft in der Nähe des Sendlinger Tors und somit im Innenstadtbereich. Diese Lage war ideal, um betuchte Tierbesitzer anzulocken, die sich nach einem Besuch bei mir auf dem Viktualienmarkt schweineteure Pfifferlinge kauften und anschließend beim Dallmayr ein Glas Prosecco zwitscherten. Champagner war nämlich längst out, hatte mir erst gestern Frau von Aarenfeld erklärt, als sie die rabenschwarze Pferdedecke mit Familienwappen für ihren Trakehnerhengst abgeholt hatte.
Während die Maschine ratternd den Bohnen zu Leibe rückte, nahm ich bei Zeus die Maße für sein Hundemäntelchen, das ihn im Schwedenurlaub vor der Kälte schützen sollte. Ich beschenkte ihn mit dem versprochenen Leckerli, notierte die Daten und servierte Frau Schneethaler geübt den Espresso. Sie trank einen Schluck und stellte die Tasse auf ein Tischchen. „Eigentlich ist es viel zu heiß dafür“, sagte sie und fächelte sich mit der Hand Luft zu. „Diese Schwüle hier in der Stadt ist unerträglich! Ich bin heilfroh, dass wir bald in Göteborg sind.“
„Sie Glückliche!“, seufzte ich. Ich mochte die feuchte Wärme ebenfalls nicht, die sich hier in der Großstadt lange hielt. Viel schlimmer war allerdings der regelmäßig auftretende Föhnwind, denn der setzte Benni immer arg zu. Manchmal hatte er da solche Migräneanfälle, dass er nicht in die Schule gehen konnte. In der dritten Klasse war das zwar nicht so schlimm, aber ich machte mir natürlich jedes Mal Sorgen um ihn.
Die Türklingel bimmelte und ein junges Paar betrat mein Geschäft. Die beiden gingen zielstrebig in die Katzenabteilung. Offenbar suchten sie etwas Selbstgenähtes für ihren Stubentiger.
„Bin gleich bei Ihnen!“, rief ich und holte eilig blaue Bänder und goldene Knöpfe aus einer Schublade, damit Frau Schneethaler die Endauswahl für Zeus‘ Mäntelchen treffen konnte.
Den Mops hatte ich inzwischen auf den Boden gesetzt und er schlich – träge vom schwülheißen Wetter – zu seinem Frauchen. Die entschied sich zum Glück schnell für protzige Goldknöpfe, stand auf und nahm seine Leine in die Hand, ebenfalls ein liebevoll gefertigtes Unikat aus meiner Nähwerkstatt.
„Wir müssen weiter, ich brauche unbedingt noch silberne Messerbänkchen. Emma, würden Sie uns ein Taxi rufen? Bis zum Kustermann ist es ja doch recht weit.“
„Selbstverständlich!“ Ich zog mein Handy hervor. Eigentlich hätte so ein zehnminütiger Spaziergang dem Mops und seinem modischen Frauchen gutgetan, aber bei dieser Julihitze war ein Taxi auch keine schlechte Wahl. Das nötige Kleingeld dafür hatte Frau Schneethaler jedenfalls. Im Gegensatz zu mir. Ich hatte mir mit meinem eigenen Laden zwar einen Kindheitstraum erfüllt und war sehr stolz, für mich und meinen Sohn sorgen zu können, aber Reichtümer konnte ich mit Hundemäntelchen und Katzentragetaschen nicht anhäufen.
Ich verabschiedete mich von ihr und ging in die Knie, um Zeus zum Abschied den Kopf zu kraulen.
Anschließend wandte ich mich dem Pärchen zu, das meine Katzensachen musterte. Die Regalbretter hatte ich mit Katzenohren verziert, die ich mittels Laubsäge selbst hergestellt hatte. Ich liebte solche Arbeiten und hatte mich mit Feuereifer auf die Deko des Ladens gestürzt, als ich ihn übernommen hatte.
Da die beiden sich noch unterhielten, musterte ich kurz mein Geschäft, als würde ich es zum ersten Mal betreten. Oh ja, ich hatte etwas Großartiges erschaffen, eine wahre Oase für Tierfreunde. All das hatte ich ganz alleine hinbekommen, ohne fremde Hilfe. Und ohne, dass mir jemand reingeredet hatte, zum Beispiel ein besserwisserischer Mann. Aus dem schüchternen Mädchen von früher war eine kreative Geschäftsfrau geworden und das erfüllte mich mit einem kolossal guten Gefühl.
„Kann man das alles besticken?“, fragte die junge Frau. „Meine Mutter hat bald Geburtstag und ich habe keine Ahnung, was ich ihr schenken soll. Sie hat zwei Ragdolls, reine Wohnungskatzen. Und schrecklich verwöhnt.“ Unsicher musterte sie die Ware in den Regalen.
„Kann man wohl sagen“, brummte ihr Begleiter. „Ich finde ja, eine Pralinenschachtel würde auch reichen.“
Die Frau warf ihm einen finsteren Blick zu.
Oh je. Die waren sich nicht einig, was sie wollten. Natürlich tat ich, als hätte ich die Unstimmigkeiten nicht bemerkt.
„Wie wäre es mit einem Fensterliegeplatz?“ Ich deutete auf ein weich gepolstertes Brett. „Mit den Saugnäpfen kann man es an jeder Scheibe befestigen und die Katzen können nach draußen schauen. Ich könnte eine Borte außenherum nähen mit den Namen der Katzen. Oder – wenn sie wollen – das Ganze wie einen Thron gestalten.“
Die Frau lachte. „Das wäre genau das Richtige! Sie nennt die beiden sowieso immer meine Prinzessinnen. Schaffen Sie das bis zum Wochenende?“ Skeptisch sah sie mich an.
„Na klar.“ Ich freute mich immer, wenn ich Kundenwünsche erfüllen konnte. Selbst wenn der ein oder andere Abend dabei draufging. „Ich habe den Nähtisch mit meiner Wundermaschine hier im Laden, gleich hinter diesem Vorhang. Das kriege ich bis übermorgen hin.“
„Völlig übertrieben.“ Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. „Immer gibst du für deine Mutter so viel Geld aus.“
„Ich nehm’s ja eh von meinem Konto, also beruhig dich!“, zischte sie.
Ich tat, als müsste ich dringend die perlenverzierten Katzenhalsbänder neu sortieren. Wie froh war ich, dass mir niemand mehr sagte, was ich zu tun oder lassen hatte! Und das würde mir auch nie wieder passieren, das hatte ich mir geschworen. Nie mehr würde ich mich einem Kerl unterordnen, mir reinreden lassen oder einen um Hilfe bitten, das wusste ich sicher. Wieso auch? Ich hatte das alles hier hingekriegt und würde auch weiterhin super für Benni und mich sorgen können. Zu zweit waren wir ein unschlagbares Team.
„Das Besticken kostet nur dreißig Euro Aufpreis“, wandte ich mich an das Paar. „Und Sie hätten dann ein langlebiges Geschenk mit den Namen der beiden Prinzessinnen.“
„Mama, stick doch wieder so ‘ne Katze mit buschigem Schwanz drauf!“
Ich fuhr herum. Benni stand hinter mir und grinste breit. Offenbar war er stolz wie Oskar, weil er mich wieder mal überrascht hatte.
Ich wuschelte ihm durch seinen Blondschopf. „Hast du dich reingeschlichen, du kleiner Lauser!“ Benni war der einzige Mensch, der es schaffte, lautlos meinen Laden zu betreten. Keine Ahnung, wie er das machte, denn normalerweise klingelte das Glöckchen schon bei der geringsten Bewegung der Tür. Er musste über geheime Magie verfügen.
„Gerne sticke ich Ihnen zwei Katzen“, schlug ich dem Paar vor. „Sogar in den Fellfarben, wenn Sie mir ein Foto mailen. Vielleicht mit kleinen Krönchen?“
Die Frau nickte begeistert und ich führte sie zu meinem Musterbuch, während Benni es sich im Ohrensessel bequem machte. Mein Blick glitt im Vorbeigehen über ihn. Blass sah er aus. Blass und schmal. Wieder einmal gab es mir einen schmerzhaften Stich. Er war viel ruhiger als seine Klassenkameraden, spielte oft allein in seinem Zimmer, hatte mit Fußball überhaupt nichts am Hut. Und das hier in München, wo schon die Babys in FC Bayern Strampler gesteckt wurden.
Am liebsten wäre ich zu ihm gegangen, hätte ihn an mich gedrückt und ihm ins Ohr geflüstert, dass er der tollste Junge auf der ganzen Welt war. Weil das nämlich stimmte! Aber ich musste mich um meine Kunden kümmern. Außerdem wäre es Benni schrecklich peinlich gewesen, in der Öffentlichkeit von mir umarmt zu werden. Für einen Neunjährigen war so etwas natürlich ein Unding.
Als das Paar die Bestellung für den Ragdoll-Prinzessinnen-Thron aufgegeben hatte und draußen war, setzte ich mich neben Benni auf die breite Armlehne des Sessels. Da passte ich zwar nur mit einer halben Pobacke drauf, aber das war egal.
„Wie war’s in der Schule?“, wollte ich wissen.
„Mama, das fragst du immer“, beschwerte er sich. „Ist doch eh jeden Tag gleich.“
Ich sah ihm an, dass das nicht stimmte. Irgendetwas war vorgefallen. Hatten ihn die anderen Jungs wieder gehänselt? Weil er nicht in der Pause wie verrückt herumlief oder im Sportunterricht zu langsam die Sprossenwand hochgeklettert war? Oder war dieser dämlichen Klassenlehrerin, Frau Obermeier, erneut eingefallen, dass er sich zu wenig meldete und deshalb ein Referat halten musste? Benni hasste es, vor Leuten zu sprechen. Beim letzten Mal hatte er drei Tage lang Bauchweh gehabt.
Er hielt den Kopf gesenkt und fummelte am Saum seines T-Shirts herum. Kein gutes Zeichen.
Ich legte meinen Arm um seine schmalen Schultern. „Erzähl mir doch, was los ist“, fragte ich weich.
Doch er schüttelte meinen Arm ab. „Gar nix“, beharrte er.
„Über irgendwas hast du dich doch geärgert, das seh‘ ich dir an der Nasenspitze an.“ Lächelnd stupste ich mit dem Finger darauf.
Benni sprang auf. „Hör auf damit, ich bin doch kein Baby mehr“, rief er. Seine Augen schimmerten verdächtig feucht. Er verpasste dem Schulranzen, der neben dem Sessel stand, einen Fußtritt.
Ich zuckte zusammen. So etwas hatte er noch nie getan. Er musste total frustriert sein. Nur weswegen?
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht wie ein Baby behandeln“, entschuldigte ich mich. „Ich mache mir einfach Sorgen, wenn ich merke, dass du schlecht drauf bist.“
Er schnaubte. Auch das war etwas Neues. „Lorenz feiert Geburtstag“, presste er schließlich hervor.
Das war sein Banknachbar, mit dem er sich eigentlich gut verstand.
„Und?“, fragte ich, weil er nicht weitersprach.
Noch ein Tritt gegen den Ranzen.
„Ich bin nicht eingeladen“, sprudelte es schließlich aus ihm heraus. „Weil Lorenz nämlich eine Party im doofen Soccerworld feiert. Fast alle Jungs aus der Klasse sind dabei.“
„Nur du nicht?“ Entsetzt sah ich meinen Kleinen an.
„Ist mir eh recht“, behauptete er und reckte sein Kinn nach vorne. „Fußball ist total dämlich. Ich will da gar nicht hin.“
Bevor ich etwas sagen konnte, hob er seinen Schulranzen auf, schulterte ihn und stapfte auf die hintere Tür zu. Von dort ging es nach oben, in unsere kleine Wohnung.
„Bin gleich bei dir“, rief ich ihm hinterher. Vor der Ladentür stand nämlich ein Kunde.
Benni antwortete nicht. Kurz darauf hörte ich die Tür ins Schloss fallen. Ich war hin und her gerissen. Sollte ich den Kunden noch bedienen? Nötig hätte ich es, denn jeder Euro zählte. Aber Benni brauchte mich doch!
Ach, egal, was sich der Kunde dachte, ich würde die Mittagspause etwas vorziehen und bereits jetzt abschließen. Entschieden holte ich den Schlüssel aus dem Kassenfach und eilte zur Ladentür. Der Mann drehte sich sowieso weg und ging auf die andere Straßenseite.
Ich knipste das Licht im Laden aus und stieg über die knarzige Treppe in den ersten Stock. In der Wohnung war alles still. Vorsichtig spähte ich in die Küche, denn ich ahnte, wo Benni war.
Tatsächlich. Er saß im Schneidersitz auf einem Stuhl, der vor dem geöffneten Fenster stand. Seinen rechten Arm hatte er nach draußen gestreckt. Und auch wenn ich Bennis Hand nicht sah, wusste ich, dass darauf ein paar Pinienkerne lagen.
Als er mich bemerkte, legte er warnend den Zeigefinger der anderen Hand an die Lippe. „Die Blaumeise sitzt im Baum!“, flüsterte er. „Vielleicht schaffe ich’s endlich, dass sie auf meiner Hand landet.“
Er drehte sich wieder zum Fenster. In einiger Entfernung stand eine Kastanie und dort ließen sich manchmal Meisen, Spatzen oder Grünfinken nieder. Zu Bennis Leidwesen sehr selten, schließlich lebten wir mitten in der Stadt.
Ich lehnte mich an den kühlen Türstock und betrachtete meinen Sohn. Wie ruhig er da saß! Er schaffte das stundenlang. Nur konnte man damit als Neunjähriger keinen Blumentopf gewinnen.
Ein Schmerz, den ich schon lange kannte, stieg in mir auf. So gerne hätte ich Benjamin vor all den Verletzungen dieser Welt beschützt. Er sollte doch lachen, strahlen, mit Freunden Fensterscheiben einschießen, den Lehrern Streiche spielen und meinetwegen sogar mal meine Unterschrift fälschen, um eine Schulstunde zu schwänzen. Doch Übermut und lautes Lachen kam nur selten bei ihm vor. Benni war schon immer ruhig gewesen, aber in den letzten Jahren war er fast schon zu einem Eigenbrötler geworden. Was mir völlig egal wäre, sofern es ihn glücklich machte. Doch daran zweifelte ich. Und zermarterte mir in vielen Nächten den Kopf, was ich nur für ihn tun konnte.
„Mama, schau nur!“, rief er plötzlich. „Sie ist voll über meine Hand geflogen, Wahnsinn!“
Benni drehte sich kurz zu mir um, ein Strahlen im Gesicht.
Eine Welle von Liebe ergriff mich und ließ mich schlucken, denn ich durfte ihm keinesfalls zeigen, was ich fühlte. Schließlich wollte man als moderner Neunjähriger eine coole Mutter haben.
„Du hast es wirklich drauf mit den Piepmätzen“, sagte ich und sah, dass er sich über das Lob freute.
„Gibt’s heute Mittag fusselige Fussili?“, fragte er grinsend. Den Namen seiner Lieblingsnudeln hatte er schon immer lustig gefunden.
Ich versank einen Moment in seinem fröhlichen Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich machte ich mir viel zu viele Sorgen.
„Schon wieder? Die müssen dir bald zu den Ohren rauskommen“, neckte ich ihn.
„Bitte, Mama!“ Er probierte es mit einem Augenaufschlag, der mich zum Lachen brachte.
„Also gut, ganz wie der Herr befiehlt. Fusselige Nudeln mit patzigem Pesto und Minitomaten.“ Das war sein Lieblingsgericht. Meins auch, weil es schnell gekocht war.
Eine halbe Stunde später schob ich mir die letzte Cocktailtomate in den Mund und lehnte mich zufrieden im Küchenstuhl zurück. „Heute Abend kommt die Vroni zu mir, wir quatschen ein wenig.“
Benni klappte seine Hände auf und zu wie ein Krokodilmaul. „Ihr ratscht bestimmt wieder eeewig lang“, sagte er grinsend.
„Kann dir ja egal sein, du liegst da brav in deinem Bettchen.“
Er zuckte mit den Schultern. Dann fiel ihm offensichtlich was ein. „Hast du schon die neue Klangschale von der Vroni gesehen? Die ist megakrass! Sie hat mich die gestern ausprobieren lassen, da fliegen dir die Ohren weg.“
Veronika hatte ein paar Straßen weiter einen florierenden Laden für Klangschalen, Holzflöten, Yogakissen, Räucherstäbchen und allen möglichen Esoterikbedarf. Sie hielt dort Seminare, die erstaunlich gut besucht waren, hatte eine Angestellte und einen jungen Stammgast, nämlich Benni. Der trieb sich liebend gern bei ihr im Geschäft herum, durfte Metallstäbe zum Klingen bringen oder mit einem flauschigen Puschelstab in den Messingschalen herumreiben, bis ein Oberton sich langsam erhob, durch den Laden schwebte und den ganzen Raum mit seiner sanften Wucht erfüllte. „Seelentöne“ hieß Veronikas Laden und der Name war absolut passend gewählt.
„Ich war schon ewig nicht mehr bei ihr“, erklärte ich ihm. „Meistens treffen wir uns ja hier.“
„Du solltest sie mal besuchen“, riet er mir mit bester Oberlehrerstimme. „Sie sagt dir dann auch was zu deinem Horoskop oder so. Weißt du was? Neulich hat sie mit so einem Pendeldings rumgemacht. War voll cool! Ich frag sie morgen, ob sie die Aufgaben für den Mathetest auspendeln kann.“
„Untersteh dich!“, erwiderte ich und schüttelte lachend den Kopf. Manchmal fragte ich mich wirklich, ob meine leicht durchgeknallte Freundin samt ihren zahllosen Klangschalen der richtige Umgang für Benni war.